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Kilometer 14. Ich laufe jetzt eine Stunde und vierundzwanzig Minuten, ich
schaue hinunter und beobachte meine Schritte, und jeder davon beginnt mich
zu hypnotisieren. Ich schaue hoch, der Waldweg verengt sich, ich nehme nur
Wischer von grün und braun wahr, die Fußsohlen spüren jeden
Zentimeter Weg, kleine Steine massieren sie, manchmal knackt ein Ast, oder
ich merke, wie mein Zehen naß werden, wenn ich durch eine Pfütze
gelaufen bin.
Aber Nässe, Steigungen und andere Hindernisse sind mir jetzt egal. Ich
merke, wie in mir eine Zellteilung statt findet und neben mir ein anderer
Läufer läuft, mein Zwillingsbruder, der neben mir herläuft
und mein Denken übernimmt. Der Zwilling beobachtet mich und kommentiert
meinen Lauf wie ein Sportmoderator, ich sehe meine Analyse im Fernsehen,
meine Strecke wird als buntes Profil gezeigt, die Kamera springt zwischen
mir und den Grafiken hin und her, ich höre die Reporterstimme meines
Zwillingsbruders: "...hier bei Kilometer 14 wird sein Rhythmus unruhiger,
ich glaube, mit diesen Tempo kann er in der Spitze nicht mitlaufen... Jetzt
öffnet er den Mund, immer ein Zeichen von Erschöpfung, denn der
Sportler braucht mehr Sauerstoff... Liebe Zuschauer zu Hause, wir fragen
uns, kann er durchhalten?" Was erzählt der Typ für einen Scheiß,
denke ich, erstens ist mein Rhythmus ganz normal, zweitens atme ich immer
durch den Mund, und drittens werde ich es schaffen, ich schalte den Fernseher
aus. Doch mein Zwilling versucht immer noch mein Denken zu bestimmen, er
beschießt mich mit Gedanken, schon spüre ich die ersten Treffer
in meinem Kopf.
Ich versuche mich zu wehren. Ich rieche die Haut meiner Freundin, denke an
Spiridon und frage mich, ob der alte Mann im Traum mein Vater war, Melodien
kreisen in meinen Gedanken, ich schmecke meinen Kaffee, sehe mich am Schreibtisch,
rede mit fremden Personen, und wer ist der Mann im blauen Regenmantel? Ja,
ich sehe einen Mann in einem blauen Regenmantel, bestimmt ist es ein Spaziergänger,
der an einen Baum pinkelt. Als ich näher komme, stelle ich fest, daß
es nur zwei gestapelte blaue Müllbeutel mit Gartenabfälle sind,
die jemand im Wald entsorgt hat. Ich schaue zu meinem Zwilling hinüber,
er lacht über seine Scherze und streckt mir seine Zunge entgegen. Durch
die vielen Steigungen spüre ich jetzt meine Knie, jeder Anstieg wird
schwieriger.
"Willst Du aufhören?" fragt mich der Zwilling.
"Nein, ich kann noch!" antworte ich trotzig.
"Wenn man Schmerzen hat soll man aufhören!" sagt er streng.
"Ich habe keine Schmerzen, nur ein leichtes Ziehen", behaupte ich, bitte
jetzt keine orthopädischen Diskussionen.
"Du übertreibst..." sagt der Zwilling, doch ich lasse ihn nicht ausreden.
"Hör zu", sage ich, "ich habe alles richtig gemacht Streichung, Klammsten,
ich habe genug getrunken, meine Schuhe sind richtig geschnürt, und nun
verschwinde. ICH WERDE NICHT AUFHÖREN!!!!" Der Zwilling zuckt mit den
Achseln, ich habe das Duell gewonnen, und dieser Triumph beflügelt
mich. Ich stoppe an einer Brücke, der Zwilling überholt mich, läuft
über die Brücke und verschwindet wortlos, er kommt und geht wann
er will. Auch der Regen hat keine Kondition mehr und läßt nach,
bis er schließlich ganz aufhört. Es ist hell geworden, und ich
beginne mit meinen Cooldown, ich jogge langsam nach Hause, ich bin jetzt
zwei Stunden unterwegs.
Auf meinen Rückweg laufe ich wieder am Zoo vorbei, und statt Arbeitern
sind jetzt überall Schulkinder unterwegs, manche von ihnen feuern mich
an. Langsam kommt mein Ziel näher, ein kleiner Park mit einen Teich.
Hier ins Ziel zu laufen ist nicht so schön wie in einen Wettkampf, wo
die Zuschauer dir zujubeln und man sich wie eine Kugel fühlt, die aus
einer Kanone abgefeuert wurde.
Mein Ziel ist eine Parkbank, auf der eingeritzt ist: Melanie bumst Arkan.
Auf der Melanie-bumst-Arkan-Ziellinie stoppe ich meine Zeit, zwei Stunden
sechzehn Minuten, nicht schlecht. Meine Atmung wird ruhiger, ich gehe ein
Stück, meine Beine vermissen das Tempo und müssen sich erst ans
Gehen gewöhnen. Anschließend gehe ich auf eine Wiese und mache
noch ein wenig Gymnastik. Nach der letzten Kniebeuge trinke ich meine letzte
Flasche Wasser aus und setze mich auf die Parkbank, ich werfe meinen Kopf
in den Nacken und schließe die Augen. Meine Erinnerung holt mich ein,
und ich sehe mich in meinen letzten Urlaub an einem endlosen Strand.
Ich bin damals am Meer eine Stunde gelaufen, es war sonnig, und als ich fertig
war, zog mich meine Freundin an sich, küßte mich auf die Nase
und sagte: "Geh doch schwimmen. Du wolltest doch immer nach den Laufen ins
Meer springen. Jetzt kannst du es!" Ich zog mich bis auf meine Laufshorts
aus, holte tief Luft, sprang in die Wellen und tauchte tief ein, das Wasser
kühlte mich. Unter Wasser öffnete ich die Augen und sah das Sonnenlicht,
das durch die Oberfläche brach. Ich schwamm nach oben, holte tief Luft
und lächelte, dann ließ ich mich auf dem Wasser treiben.
kung shing auf dem sofa
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